Sonntag, 16. März 2014

Kleiner Jaguar - Eine Kurzgeschichte für Kinder


Ich habe die folgende Kurzgeschichte 2009 für einen Schreibwettbewerb verfasst. Das Thema lautete "Auf dem Holzweg" - und die Aufgabe bestand darin, eine Kurzgeschichte für Kinder oder Jugendliche zu einem Umweltthema zu schreiben.

Vor Kurzem kam sie mir plötzlich wieder in den Sinn, denn an der Schule meiner Tochter soll es bald eine Projektwoche zum Thema "Umweltschutz und Nachhaltigkeit" geben. In der Geschichte steckt vielleicht eine gute Idee für ein Projekt:


Kleiner Jaguar


Der Zug ruckt an. Endlich unterwegs!
Ich schaue aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft und denke an meine Schwester. Ich habe sie seit einem halben Jahr nicht gesehen. Im Grunde weiß ich kaum, wie sie lebt und wie es ihr geht, seit sie ökologische Landwirtschaft studiert. Das Bild habe ich dabei. Es ist sorgfältig verpackt und steht aufrecht am Fenster neben mir. Was Hanna wohl sagen wird, wenn ich es ihr nachträglich zum Geburtstag schenke? Auf einmal habe ich Angst, dass sie damit kaum noch etwas verbindet. Immerhin liegt diese Geschichte nun schon fast fünf Jahre zurück.

Ich habe den kleinen Jaguar zum ersten Mal am Samstag vor unserem Schulfest gesehen. Ich hatte mich gleich morgens mit Jenny verabredet und kam zu spät zum Mittagessen. Schon im Flur hörte ich meinen Vater und Hanna streiten. Natürlich ging es mal wieder um Naturschutz, und die Diskussion hatte, als ich ins Wohnzimmer kam, bereits das Stadium der gegenseitigen Vorwürfe erreicht.
„Wenn du denkst, dass du mit deinen abgehobenen Ideen irgendetwas bewirkst, dann bist du auf dem Holzweg“, schimpfte mein Vater.
„Na und?“, gab Hanna zurück, „Dann bin ich eben auf dem Holzweg! Aber im Gegensatz zu dir bin ich nicht schuld daran, wenn unser Planet total zugrunde geht.“
„Jetzt reicht´s aber“, schnaubte mein Vater, und meine Mutter sagte: „Warum kommst du erst jetzt zum Essen?“
Diese Frage galt mir, aber niemand war ernsthaft an einer Antwort interessiert.
Stattdessen rief Hanna: „Was anderes als Essen fällt euch wohl nicht ein! Und überhaupt esst ihr mit jedem Bissen tropischen Regenwald!“ Dann stürmte sie türknallend aus dem Wohnzimmer.
Später ging ich zu ihr, weil ich wissen wollte, was sie mit diesem merkwürdigen Satz gemeint hatte. Sie saß in ihrem Zimmer am Computer. Auf dem Boden lag ein halb-fertiges selbstgemachtes Plakat mit Regenwaldbildern.
„Ist das für eure Umwelt-AG?“, fragte ich.
„Nee, für Tante Ernas Kaffeekränzchen natürlich.“ Hanna schob mir einen Artikel zu, der die Überschrift „Rettet den Regenwald“ trug. Ich las, dass weltweit unvorstellbar große Flächen der tropischen Wälder gerodet werden, damit dort Soja angebaut werden kann.
„Was ist Soja? Wozu braucht man das?“
„Aus den Sojabohnen wird Tierfutter für unsere Mastbetriebe hergestellt“, erklärte Hanna. „Immer wenn du Fleisch, Milch oder Eier aus Massentierhaltung isst, kannst du sicher sein, dass dafür ein Stück Regenwald draufgegangen ist.“
„Darum hast du also gesagt, dass wir den Regenwald essen.“
„Ganz genau. Wir fressen uns voll – und auf der anderen Seite der Welt müssen Bäume, Tiere und Menschen sterben.“
„Das ist ja schrecklich!“
„Und deshalb werden wir auf dem Schulfest etwas dagegen tun.“
„Dann seid ihr aber wirklich auf dem Holzweg“, sagte ich.
Hanna sprang mir fast ins Gesicht. „Fängst du jetzt auch noch so an oder was?“
„Nein. Ich meine es ernst. Ihr setzt euch gegen die Abholzung des Regenwaldes ein, und deshalb seid ihr auf dem Holzweg. Aber auf einem guten.“
Hanna starrte mich ein paar Sekunden lang verblüfft an, dann trat ein Leuchten in ihre Augen. „Mensch, Meike ... du hast ja recht!“ Sie sprang auf. „Warte mal, ich zeig dir was.“
Sie öffnete ihren Schrank und zog eine Leinwand hervor. Hanna kann gut malen – aber was sie mir nun zeigte, übertraf alles, was ich bisher von ihr gesehen hatte.
„Das Bild heißt ‚Kleiner Jaguar‘“, erklärte sie und begann, wieder etwas über ihre Umwelt-AG zu erzählen. Aber ich hörte gar nicht zu, so gefesselt war ich von dem Bild. Da lag ein kleiner Jaguar entspannt auf dem Schoß eines Kindes und blickte mich aus blauen Augen an. Das Kind hatte den Arm liebevoll um den Hals des Tieres gelegt, das Gesicht dicht über das gefleckte Fell geneigt. Die beiden schmiegten sich zärtlich an-einander – geschützt und geborgen vom Wald, der hinter ihnen zu erahnen war.
„Hanna, das ist ... das ist ... das Beste, was du je gemalt hast. Es ist so lebendig, so liebevoll, so ... wunderschön.“
„Nun krieg dich mal wieder ein“, sagte Hanna, aber ich sah ihr an, dass sie sich über meine Begeisterung freute. Sie strich behutsam mit dem Finger über das Bild und sagte: „Es ist wirklich eins meiner besten.“
Wir betrachteten es noch eine Weile schweigend, dann fragte ich: „Du, Hanna ... kannst du mir das Bild zum Geburtstag schenken?“ „Nein. Ich hab dir doch schon erklärt, dass es fürs Schulfest ist.“
„Wieso denn das?“
Hanna stöhnte auf. „Du hörst aber auch nie zu. Wir wollen unsere Regenwaldbilder versteigern.“
Ich war enttäuscht, aber Hanna redete sich in Fahrt: „Mit dem eingenommenen Geld kaufen wir ein Stück Regenwald für ein Umweltprojekt in Südamerika. Das mit der Versteigerung war meine Idee. Aber es ist keine normale Versteigerung, sondern eine amerikanische. Das Besondere daran ist ... He, du hörst ja schon wieder nicht zu!“
„Sag mal, Hanna ... kannst du nicht ein anderes Bild für die Versteigerung malen?“
„Hast du einen Schaden?“, rief Hanna und nahm mir das Bild aus der Hand. „Das mache ich auf gar keinen Fall!“
„Warum bist du denn gleich so sauer? Es war doch nur eine Frage.“
„Ich bin verdammt noch mal sauer, weil die anderen auch schon mit dieser dummen Idee gekommen sind“, gab Hanna zurück. „Lena und Gülsüm können sich plötzlich nicht mehr von ihren Bildern trennen – so eine Gefühlsduselei! Und Marco fällt nichts Besseres ein, als ihnen zu raten, für die Versteigerung einfach neue Bilder zu malen, die nicht ganz so schön sind. Das finde ich total daneben. Wir müssen doch gerade die besten Bilder versteigern! Es geht um die Umwelt – nicht um unsere eigenen Wünsche.“
Ich schwieg. Hanna hatte vielleicht recht, aber ich konnte auch Lena, Gülsüm und Marco verstehen, und es tat mir jetzt schon leid um den kleinen Jaguar.
In den folgenden Tagen ließ mich der Gedanke an das Bild nicht los. Einmal schlich ich, als Hanna nicht da war, sogar in ihr Zimmer, nur um den kleinen Jaguar noch einmal zu betrachten. Er sah mich treuherzig und auffordernd an, und da wurde mir klar, dass ich ihn selbst ersteigern musste, egal, was Hanna dazu sagen würde. Zurück in meinem Zimmer leerte ich meine Spardose. Es waren achtundzwanzig Euro darin, und fünf lieh ich mir noch von Jenny, als wir schon auf dem Schulfest waren.
Als ich kurz vor Beginn der Versteigerung in die Aula kam, herrschte dort schon ein lebhaftes Gedränge. Ein Junge aus der Umwelt-AG drückte mir ein Pappschild mit der Nummer 76 in die Hand. „Wenn du bieten willst, musst du diese Nummer hochhalten, damit wir dein Gebot aufschreiben können. Bezahlen muss man erst am Schluss.“
Ich machte mich mit meiner Nummer auf die Suche nach einem guten Platz, da stürzten mir auf einmal Hanna und Marco entgegen. „Meike, du musst uns unbedingt helfen! Katharina ist krank, Daniel ist nicht aufzufinden, Lena traut sich nicht und Gülsüm ...“
Sie redeten so durcheinander, dass ich minutenlang brauchte, um zu verstehen, dass ich die Wettgebote aufschreiben sollte. Das passte mir natürlich gar nicht, aber Hanna und Marco hatten mich inzwischen schon hinter die Bühne geschoben.
Marco drückte mir einen Bogen Papier in die Hand. „Hier hast du die Liste mit den Nummern. Dahinter musst du jeweils schreiben, was geboten wurde – aber immer die Differenz zum letzten Gebot, also nicht ...“
„Differenz? Das kapier ich nicht! Außerdem will ich das nicht machen.“
„Bitte, Meike“, rief Hanna beschwörend. „Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.“
„Dann musst du´s mir aber so erklären, dass es ein normaler Mensch versteht“, sagte ich, während ich gleichzeitig fieberhaft überlegte, wie ich Jenny in der kurzen Zeit auftreiben und dazu bringen könnte, den kleinen Jaguar für mich zu ersteigern.
„Also, nochmal ganz von vorn“, begann Hanna im Tonfall einer Grundschullehrerin vor der ersten Klasse. „Bei einer amerikanischen Versteigerung geht es darum, dass möglichst viele Leute mitbieten und Geld für einen guten Zweck rausrücken – egal, ob sie das Bild am Ende bekommen oder nicht. Kannst du mir soweit folgen?“
„Ich bin ja nicht blöd“, schnappte ich, obwohl mir die Sache ganz und gar nicht klar war.
„Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt! Stell dir vor, für ein Bild wurden zwanzig Euro geboten, und als nächstes bietet jemand dreißig. Dann musst du zehn Euro notieren, also den Betrag, um den das Gebot erhöht wurde.“
„Ach so.“ Langsam begann ich die Sache zu begreifen. „Wenn der nächste dann von dreißig auf fünfunddreißig erhöht, schreibe ich also fünf Euro auf. Und zum Schluss müssen alle bezahlen, die mitgemacht haben.“
„Du hast es erfasst“, rief Hanna erleichtert, und Marco schlug mir vor Begeisterung so stark auf den Rücken, dass ich fast das Gleichgewicht verlor. Ich selbst war alles andere als begeistert. Ich fühlte mich völlig überrumpelt und hatte zudem kaum noch Zeit, um Jenny zu suchen. Sie war meine letzte Rettung. Ich fand sie drei Minuten vor Beginn der Versteigerung beim Kuchenverkauf in unserem Klassenraum.
„Du musst unbedingt mit in die Aula kommen und Hannas Bild für mich ersteigern!“ Mit diesen Worten drückte ich ihr meine dreiunddreißig Euro und das Pappschild mit der Nummer in die Hand.
„Aber Meike, ich komme hier gerade nicht weg.“
„Du musst aber! Bitte. Es ist lebenswichtig.“
„Ich weiß aber doch gar nicht, wie das geht.“
„Guck am Anfang einfach nur zu, dann wirst du´s schon kapieren. Ich kann´s dir jetzt nicht so schnell erklären. Bis gleich, ich zähle auf dich!“
Ich rannte zurück in die Aula, wo Hanna mich an der Tür abfing und mit sich auf die Bühne zog. Dort stand nun ein großer Holzklotz auf einem Tisch, und daneben lag der Versteigerungshammer. Ich setzte mich auf meinen Platz und hielt nach Jenny Ausschau. Hanna nahm das Mikrofon. Ich merkte, wie aufgeregt sie war, als sie das Regenwald¬projekt vorstellte. Aber nach und nach wurde sie immer sicherer, und selbst ich hörte ihr gespannt zu. Schließlich leitete sie zu der Versteigerung über und sagte: „Das Motto unserer Aktion lautet ‚Auf dem Holzweg‘. Denn wenn wir uns gegen die Abholzung und für die Rettung der tropischen Wälder engagieren, sind wir auf dem Holzweg.“
Sie hielt kurz inne, um den Zuhören Zeit zu geben, das Gesagte aufzunehmen, dann fuhr sie fort: „Aber unser Holzweg ist keine Sackgasse, sondern ein Weg, der zu mehr Gerechtigkeit auf der Welt führt und die Umweltzerstörung beendet.“
Für diese Worte erntete sie viel Beifall, und ich war stolz darauf, dass ich es gewesen war, die sie darauf gebracht hatte.
Nun nahm Marco das Mikrofon und erklärte die Regeln der amerikanischen Versteigerung.
Dann rief er: „Meine Damen und Herren, unser erstes Kunstwerk heißt ‚Dreißig bunte Schmetter¬linge‘. Es wurde von Lena Wiemann aus der 5a gemalt. Wir beginnen mit zehn Euro. Wer bietet zehn Euro für dieses Meisterwerk?“
Ein schwarzhaariger Mann in der ersten Reihe hielt die Nummer 22 hoch.
„Zehn Euro für ‚Dreißig bunte Schmetterlinge’“, rief Marco. „Wer bietet mehr?“
Eine Frau hob die Nummer 62 und bot fünfzehn Euro. Der Schwarzaarige mit der Nummer 22 erhöhte um weitere fünf. Dann boten mehrere Leute fast gleichzeitig. Ich kam richtig ins Schwitzen und hatte keine Zeit mehr, auf Jennys Erscheinen zu lauern. Bei fünfzig Euro folgten die Gebote nicht mehr so rasch aufeinander, und bei siebzig trat eine Pause ein. Mir war schon ganz schwindelig. So hohe Summen hatte ich nicht erwartet, auch wenn jeder immer nur ein paar Euro dazugab.
Marco hob den Hammer. „Siebzig Euro zum Ersten, siebzig Euro zum Zweiten und siebzig Euro ... zum Dritten!“ Er ließ den Hammer niedersausen. „Und damit geht das Gemälde ‚Dreißig bunte Schmettelinge’ an die freundliche Bieterin mit der Nummer dreiundvierzig. Herzlichen Glückwunsch! Sie können sich das Bild nachher abholen.“
Das nächste Bild, das versteigert wurde, war Marcos Werk mit dem Titel „Regenwaldimpressionen“. Es sah wirklich sehr verregnet und sehr impressionistisch aus. Es brachte fünfundvierzig Euro ein und ging an meine Deutschlehrerin.
Das dritte Bild war von Gülsüm und wurde für fünfzig Euro an ihre Mutter versteigert.
Ich wurde immer nervöser, denn von Jenny war noch immer keine Spur zu sehen.
Und dann griff Marco nach dem kleinen Jaguar.
„Noch nicht ...“, flüsterte ich und versuchte verzweifelt, ihm Zeichen zu machen, aber Marco sah mich nicht und pries das Bild schon lautstark an.
Der kleine Jaguar war wirklich das schönste Bild von allen; das schienen auch die Zuschauer zu finden, denn das Gebot lag innerhalb kürzester Zeit bei fünfundsiebzig Euro. Ich kam kaum hinterher mit dem Aufschreiben; außerdem zitterten meine Hände vor Aufregung so sehr, dass ich kaum den Stift halten konnte.
Hannas Französischlehrerin bot achtzig Euro. Danach entstand erstmalig eine kurze Stille.
„Neunzig!“ Das war Jennys Stimme. Endlich! Jenny sah ziemlich abgehetzt aus, aber sie schwenkte triumphierend ihre Nummer. Ich sah sie an und schüttelte den Kopf. Das sollte heißen, dass sie mit weiteren Geboten warten sollte, aber sie verstand meinen Wink nicht oder hatte ihn vielleicht auch gar nicht bemerkt.
Der Schwarzhaarige mit der Nummer 22 erhöhte das Gebot auf hundert Euro – und Jenny rief sofort: „Hundertzehn!“ Sie wurde augenblicklich von Hannas Französischlehrerin überboten – und damit war über die Hälfte meines Geldes weg.
In diesem Moment sah ich meine Eltern in die Aula kommen. Meine Mutter trug eine Nummer bei sich. Ich war so überrascht, dass ich fast mit dem Rechnen durcheinandergeriet. Hanna gab neben mir einen erstaunten Laut von sich.
Der Schwarzhaarige bot hundertzwanzig Euro.
Jenny rief: „Hundertdreißig.“
Ich raufte mir im Stillen die Haare. Wenn sie wenigstens nur um fünf Euro erhöht hätte!
In diesem Augenblick sagte meine Mutter: „Hundertvierzig.“
Jetzt überboten sie und Jenny sich auch noch gegenseitig! Es war zum Verrücktwerden.
„Hundertfünfzig.“ Das war wieder dieser Schwarzhaarige. Was wollte er mit Hannas Bild?
„Hundertdreiundfünfzig“, sagte Jenny und hatte damit meine letzten drei Euro eingesetzt.
„Hundertfünfundfünfzig“, rief Hannas Französischlehrerin. Ich hätte sie dafür ohrfeigen können.
„Hundertsechzig.“ Das war mein Vater. Ich konnte es kaum fassen.
Eine kurze Stille trat ein. Marco hob den Hammer, und ich flehte ihn in Gedanken an: „Na los, mach schon: zum Ersten, zum Zweiten ...!“
Aber Marco kam nun erst richtig in Fahrt: „Hundertsechzig Euro, wer bietet mehr? Denken Sie an den Regenwald! Und denken Sie daran, dass diese junge Künstlerin eines Tages bekannt werden wird. Wer dieses wundervolle Bild ersteigert, hält vielleicht ein berühmtes Erstlingswerk in den Händen.“
Die Zuschauer lachten. Jemand rief: „Hundertsiebzig Euro für den Regenwald!“
Ich sah, wie meine Eltern nervöse Blicke tauschten. Dann sagte meine Mutter: „Hundertachtzig Euro. Für die Künstlerin.“
„Hundertachtzig zum Ersten ...“, begann Marco.
„Hundertfünfundachtzig“, rief die Französischlehrerin. Mir wurde es heiß.
„Hundertneunzig“, sagte meine Mutter und erntete nun von meinem Vater einen missbilligenden Blick.
„Marco, bitte ...“, flüsterte ich beschwörend, doch es nützte nichts.
„Zweihundert“, sagte der schwarzhaarige Mann mit der Nummer 22.
Marco hob langsam den Hammer. „Zweihundert Euro für den Regenwald! Zum Ersten ... zum Zweiten ... Oder will jemand noch mehr bieten?“ Meine Eltern sahen zu Boden, und da wusste ich, dass das Spiel aus war.
„Zweihundert Euro zum Dritten!“ Marco ließ den Hammer auf den Klotz sausen.
Die Leute klatschten wie wild. Ich notierte „Kleiner Jaguar“ bei der Nummer 22 und biss mir auf die Lippe, um nicht loszuheulen. Die Versteigerung der übrigen Bilder rauschte an mir vorbei. Und dann war endlich Schluss. Marco bedankte sich bei allen, die mitgeboten und mit ihrem Geld zur Rettung des Regenwaldes beigetragen hatten, und bat sie zum Bezahlen und zum Abholen der Bilder nach vorn. Die Bilanz der Versteigerung war überwältigend. Wir hatten für neun Bilder insgesamt 715 Euro eingenommen.
„Mensch, Hanna, schlag ein! Wir waren super erfolgreich!“, rief Marco und sah sich nach ihr um. Sie lehnte an dem Tisch, auf dem vorher der kleine Jaguar gestanden hatte.
„Ja ... super“, sagte sie, ohne Marco anzusehen. Ich folgte ihrem Blick und sah gerade noch den Schwarzhaarigen mit unserem kleinen Jaguar die Aula verlassen.
„Gehen wir“, sagte Hanna, und ich merkte auf einmal, dass sie den Tränen nah war.
„He, wir wollten doch noch feiern“, rief Marco, aber Hanna lief schon die Stufen hinab.
„Was hat sie denn?“, fragte Marco.
„Keine Ahnung“, log ich.

Der Zug wird langsamer. In wenigen Minuten bin ich am Ziel.
Ich nehme das Bild behutsam in beide Hände. Vor vier Wochen habe ich es wiederentdeckt, als ich mit meinem Schulpraktikum beim Naturschutzbund begonnen habe. Ich musste mich am ersten Tag in einem Büro melden, und dort hing es an der Wand. Ich blieb in der Tür stehen und rührte mich nicht vom Fleck. Der schwarzhaarige Mann am Schreibtisch muss mein Benehmen ziemlich unhöflich gefunden haben, aber er sagte: „Ein schönes Bild. Ich habe es bei einem Schulfest ersteigert.“
Später habe ich ihm die Geschichte des kleinen Jaguars erzählt, und am Ende des Praktikums hat er mir das Bild geschenkt. Und nun sitze ich damit im Zug. Gleich werde ich Hanna wiedersehen – und auf einmal bin ich mir ganz sicher, dass sie sich über den kleinen Jaguar freuen wird.